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Garbata. Der Kawaljer.
Zwei masurische Geschichten von Fritz Skowronnek
Leipzig.
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Garbata
Wie ein Schleier aus tausend Perlen lag der Tau auf dem Grase. Noch vor der Sonne war der Morgenwind ausgestanden und hatte die leichten Tropfen von den Sträuchern geschüttelt. Nur im Grase lagen sie noch dicht beieinander, und der Fuchs, der über die Wiese schnürte, vom aufgeregten Geschrei der Kiebitze verfolgt, mußte von Zeit zu Zeit stehen bleiben, um die Tropfen aus der Standarte zu schütteln. Die Singvögel sangen nicht mehr an diesem Morgen, denn es war bereits nach Johanni. Nur die Lerche jubilierte noch im Himmelsblau, und ab und zu rief auch der Kuckuck seinen Namen. Aber häufiger als sonst schloß er sein Rufen mit einem kullernden Lachen — das beste Zeichen seines baldigen Verstummens.
Am Bergeshang tummelte sich ein alter Hase im weichen Sande, wälzte sich auf dem Rücken oder rieb langgestreckt seinen weißen Leib auf dem Erdboden, um das vom Tau durchnäßte Fell zu trocknen, ehe er sich zur Tagesruhe unter die tief herabhängenden Äste einer Fichte einschob. Da, jetzt hebt er die langen Löffel, horcht einen Augenblick und verschwindet dann mit einem Satz im dichten Gebüsch. Sein feines Gehör hat die leichten Schritte vernommen, mit denen Garbata den Fußpfad über den Berg daher gewandert kommt. Die Röcke hat sie hoch geschützt, die Strümpfe und Schuhe ausgezogen und über den linken Arm gehängt, an dem schon eine umfangreiche schwarze Handtasche baumelt. In der Rechten trägt sie ausgespannt einen großen Schirm, unter dem die kleine Gestalt wie unter einem Dach dahinschreitet.
Auf den ersten Augenblick sah die ganze Person furchtbar komisch aus. Man hatte das Gefühl, als könne sie sich plötzlich um mehr als Kopfeslänge emporrichten, wenn sie nur wollte. Aber sie konnte es nicht, selbst wenn sie gewollt hätte! Denn sie war verwachsen, nach dem Sturz, den sie als sechsjähriges Kind vom beladenen Heuwagen getan hatte. Der Rücken hatte sich zu einem Buckel gewölbt, und der Kopf war zwischen die emporstehenden Schultern hinabgesunken. Seitdem nannte sie jeder „Garbata“, die Bucklige, und mancher wußte gar nicht mehr, daß sie eigentlich Lowisa Mottek hieß. Sie selbst mußte sich ja manchmal darauf besinnen, wenn sie ihren Namen zu schreiben hatte, was allerdings nicht oft vorkam, höchstens alle Jahre ein- oder zweimal, wenn sie einen säumigen Zahler an den kleinen Tagelohn erinnern mußte, den sie mit ihrer Nadel verdient hatte.
Trotz des Mißgeschicks war ihr Gemüt frisch und fröhlich geblieben. Sie war das, was man in Ostpreußen ein „lustiges Flick“ nennt. Wenn sie des Abends mit den Mädchen des Dorfes spazieren ging, war sie stets der Mittelpunkt der ganzen Schar. Sie konnte viele schöne Lieder singen, und ihre Stimme klang so rein und klar, daß die Bauernsöhne, die vor den Haustüren standen und in beschaulicher Ruhe ihre Pfeife tauchten, mit Vergnügen zuhörten. Und manch einer meinte: „Schade, daß sie bucklig ist!“
Die Burschen hatten recht, wenn sie das sagten, denn Garbata hatte ein feines Gesicht mit frischen Farben, schönes blondes Haar, das wie ein Diadem auf ihrem Kopfe lag, und blanke Augen, aus denen der Schalk sprach, der in ihr steckte. Nichts von Grämlichkeit oder Verbissenheit!
Auch heute sah sie mit froh leuchtenden Augen in die Welt. Zu ihren Füßen dehnte sich das weite Tal mit grünen Wiesen und wogenden Kornfeldern. Drüben auf der andern Seite lag das Dorf Rakowen mit seinen weißen Häusern. Dahinter hoben sich wieder die Berge und auf ihnen der tiefblau schimmernde Wald, der rings den Horizont umsäumte.
Auf der Wiese da unten schwang ein einsamer Schnitter die Sense. Bei jedem Schwung der Arme blitzte das Eisen im Strahl der Morgensonne. Mit scharfem Auge hatte Garbata ihn erkannt; es war der alte Rostek, ihr ehemaliger Vormund, bei dem sie nach dem frühen Tode ihrer Eltern aufgewachsen war, bis sie in die Stadt ging, um die Schneiderei zu lernen. Schon von weitem rief sie ihm fröhlich einen „Guten Morgen“ zu. Der Alte stieß die Sense mit dem Stiel in den weichen Boden und kam zum Wege.
„Ah, guten Morgen Garbata! Schon so früh unterwegs.
Zu wem gehst du heute nähen?“
„Zu Euch, Ohmchen, zu Euch.“
„Das ist gut, mein Kind, daß du kommst. Wir haben keinen Knopf mehr an den Hemden.“
„Das habe ich mir schon gedacht. Na, und wie geht es sonst mit der Gesundheit?“
„Wie soll es gehen? Du weißt doch: alter Mann ist wie ein Schatten. Springt er über den Zaun, dann ist er auf der anderen Seit’!“
„Na, na, Ohmchen, du wirst noch lange nicht über den Zaun springen.“
„Ach, Kind, es wär’ Zeit, daß ich den Löffel weglegte und dorthin gebracht würde.“ Er wies mit der Hand nach den Bergen, wo der Friedhof des Dorfes lag. „Ist das eine Wirtschaft, zwei Männer ohne Frau im Hause?“
„Nein Ohmchen, das ist keine Wirtschaft! Einer von Euch muß heiraten, du oder der Ludwig.“
Sie hatte es mit so komischem Nachdruck gesagt, daß der Alte laut auflachen mußte. „Du hast recht, Garbata, aber ich muß es schon dem Ludwig überlassen. Er ist heute mit dem fetten Schwein zur Stadt gefahren. Die Zinsen müssen bezahlt werden, und wir haben noch nicht das Geld zusammen. Aber nun mach’, daß du weiter kommst, und sieh nach dem Rechten. Die Margellen schleppen uns alles aus dem Hause.“
Er nickte ihr freundlich zu und sah ihr nach, wie sie hurtig davonschritt. Schade, daß sie bucklig ist und kein Geld hat! Das wäre eine Frau für den Ludwig, wie sie im Buche steht. Mit dem Geld, das wär’ noch nicht das Schlimmste. Wenn sie gut wirtschaften, dann könnten sie auch so durchhauen, aber ‘ne bucklige Frau? Er zog den Schleifstein aus dem Köcher und strich bedächtig die Sense. Seine Blicke folgten noch immer der Garbata. Sie war jetzt an dem Bach angelangt, der durch die Wiesen floß. Ohne zu zögern schritt sie durch die Furt, auf welcher die Wagen durchführen, und verschmähte den Umweg, der sie auf großen Feldsteinen trockenen Fußes hinübergeführt hätte. Dann setzte sie sich auf einen Stein am Wege, zog Strümpfe und Schuhe an, ließ die geschürzten Röcke herabfallen und schloß den Schirm. Sie konnte doch nicht wie eine Scharwerksmargell durchs Dorf wandern!
Es war wirklich eine heillose Wirtschaft bei den Rosteks. Aus allen Ecken und Winkeln, aus Schränken und Kasten mußte Garbata die Wäsche der beiden Mannsleut zusammensuchen. Kopfschüttelnd stellte sie fest, daß von dem Tischzeug eine ganze Menge seit ihrem letzten Hiersein verschwunden war. Dann ging sie durchs Haus. Die Honigtöpfe in der Giebelstube leer, von dem zu Ostern geschlachteten Schwein nur noch ein einziger Schinken und eine halbe Speckseite. Auf dem Hof sah’s nicht besser aus. Die Kälber waren mager und verkommen. Geschlagen wurden sie auch, denn sie drängten sich scheu, als die Stalltür geöffnet wurde, im Hintergrund zusammen. Eine einzige Glucke mit sechs Küchlein schien auf dem Hof zu sein. Natürlich war das ganze Federvieh im Garten und fraß die Stachelbeeren ab.
Was war aus dem schönen Anwesen nach dem Tode der alten Bauernfrau geworden! Eine Lotterwirtschaft. Die Männer waren daran nicht schuld; sie waren beide fleißig und nüchtern, aber die Frau fehlte, die das Ganze zusammenhielt. In jeder Woche konnten Eier und so und so viel Pfund Butter verkauft werden, ein paar Schock junge Hühner mußten alljährlich groß werden, und auf dem großen Dorfteich mußten sich die Enten und Gänse dutzendweise tummeln. O ja, sie würde schon wirtschaften können, wenn sie auch nur eine Schneiderin war. Hier auf diesem Hof hatte sie es ja gelernt bis zu ihrem neunzehnten Jahre, ehe sie in die Stadt ging.
Der Hof war schwer belastet, denn der junge Besitzer hatte vier Geschwister auszuzahlen, und ihr Erbteil war nicht zu gering bemessen. Trotzdem konnte er auch mit einer Frau ohne reiche Mitgift auskommen, wenn sie ordentlich wirtschaftete. Und der Ludwig war ein so guter, ruhiger Mensch, den konnte ein kleines Kind lenken. Aber — hier brachen ihre Gedanken ab. Die luchternen Augen wurden traurig, und um ihren Mund zuckte es, als sie leise das eine Wort vor sich hinsprach: Garbata.
Zum erstenmal stieg in ihrem Herzen das Gefühl der Bitterkeit auf. Zum erstenmal haderte sie mit dem Schicksal, das ihr die Mißgestalt auf den Lebensweg mitgegeben hatte. Wenn sie mit geraden Gliedern ausgewachsen wäre, dann hätte sie wohl schon lange einen tüchtigen Mann bekommen, einen Handwerker oder kleinen Beamten. Aber jetzt? Jetzt pilgerte sie von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof, heimatlos. Selbst ihr Name war ihr beinahe verloren gegangen. All die Jahre war ihr nichts dabei eingefallen, daß jedermann sie mit dem Wort rief, das ihr körperliches Gebrechen bezeichnete. Jetzt mit einem Male empfand sie es aber wie einen Schimpf, als eine der Margellen den Kopf zur Tür hereinsteckte und harmlos fragte: „Garbata, was sollen wir zu Mittag kochen?“
„Weißt du nicht, wie ich heiße?“
Das Mädel schüttelte verwundert den Kopf. „Ich bin ja nicht aus dieser Gegend.“
„Na, dann merk dir’s! Ich heiße Lowisa Mottek.“ Im nächsten Augenblick schon bereute Garbata, was sie eben getan hatte, denn die Margellen lachten in der Küche laut auf und riefen sich spöttisch zu: „Du, hörst du, jetzt müssen wir immer Fräulein Mottek sagen.“
Als Ludwig Rostek gegen Abend vom Markte heimkehrte, hatte Garbata ihr inneres Gleichgewicht wieder gefunden. Erst hatte sie zwei Tränen vergossen, die ihr wider Willen über die Backen liefen, und dann in sehr energischem Tone „Dummes Frauenzimmer!“ gesagt. Aber sie hatte damit nicht die Margell in der Küche, sondern sich selbst gemeint.
Die beiden Mannsleut waren am Abend sehr vergnügt. Der Tisch war sauber mit einem weißen Linnen gedeckt, und es stand etwas Gutes zu essen darauf, wie sie es schon seit Monaten nicht gehabt hatten. Der Sohn hatte das Schwein gut verkauft, das Geld für die Zinsen war im Hause, und bei der guten Ernte, die zu erhoffen war, kam man auch über den Oktobertermin ohne Schwierigkeiten hinweg.
Als der Tisch abgeräumt war, nahm der Alte seine Pfeife und ging zum Nachbar, mit dem er eine Gemeindesache zu besprechen hatte. Im Abgehen blinzelte er mit einem Auge — das andre hatte er zugekniffen — dem Sohn zu und wies mit einem Nicken des Kopfes auf die Bucklige. Sie hatte das Manöver wohl bemerkt und ahnte auch, was die beiden im Schilde führten. Und richtig: nach einigem Hin- und Herreden über gleichgültige Dinge rückte Ludwig mit dem Anliegen heraus, Garbata möchte eine Zeitlang im Hause bleiben und ihnen die Wirtschaft führen.
„Du hast doch heute gesehen“, fuhr er dringender fort, „wie das bei uns zugeht. Kein ganzes Hemd auf dem Leib, kein vernünftiges Essen auf dem Tisch, und was die Margellen in der Schürze wegtragen, davon kann eine arme Familie leben. Das geht doch nicht so weiter.“
„Nein, Ludwig, aber weshalb bringst du nicht eine Frau ins Haus?“
„Willst du mir eine besorgen, die auf diesen Hof geht? Die ihr Geld hier hineinsteckt, um meine Geschwister auszuzahlen?“
„Nanu, das müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn solch forscher, junger Kerl, wie du, keine Frau bekommen sollte.“
„Das ist leicht gesagt, Garbata. Aber frag’ mal bei einem reichen Bauer an, ob er mir sein Kind gibt. Weißt was sie sagen? ‚Die Margell braucht sich nicht in der Landwirtschaft zu quälen, die hat Geld, die kann einen Beamten in der Stadt oder einen Kaufmann heiraten.“ Das hat mir noch heute der Wnuk aus Dlugossen gesagt. Du kommst ja überall herum, besorg mir doch eine Frau. Aber sie muß nicht auf dem Klavier spielen und aus dem Buch kochen, wie die Anna Joswig, die der Kochann aus Mostolten geheiratet hat. Der lief heute in der Stadt herum und suchte die zweite Hypothek, und im nächsten Jahre kommt die dritte.“
Er hatte sich in Eifer geredet und ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab. Garbata ließ ihre Näharbeit, an der sie eifrig stichelte, in den Schoß sinken und fragte halblaut: „Muß es denn durchaus eine Frau mit viel Geld sein? Wenn sie nur ordentlich und in der Wirtschaft gut beschlagen ist, dann könntet ihr auch so durchkommen.“
„Ja, gewiß, Garbata. Aber es wundert mich doch, daß du mir das sagst, denn du bist viel klüger als alle andern Frauenzimmer. Nun rechn’ mal: wenn meine Geschwister mich nicht drängen und mich kein Unglück trifft, dann kann ich in zehn bis fünfzehn Jahren ’rausgewirtschaftet haben, was ich auszuzahlen habe. Und dann? Dann habe ich noch fünfzehn Jahre — hoch gerechnet — vor mir, denn ich bin so ziemlich dreißig Jahre alt. Da bringe ich nicht so viel zuwege, wie mein Vater geschafft hat. Und was wird dann das Kind tun, dem ich einmal die Wirtschaft übergebe?“
Garbata hatte schon längst den Kopf auf die Arbeit gesenkt. Ohne daß sie es wußte, warum, waren ihr ein paar Tränen aus den Augen gekullert. Jetzt blieb Ludwig vor ihr stehen und strich ihr mit der Hand zärtlich über das Haar.
„Du bist eine treue Seele, Gar— Lowisa.“
Er wußte selbst nicht, weshalb es ihm in diesem Augenblick unmöglich war, sie „Garbata“ anzureden.
***
Sie war bei den Rosteks geblieben und hatte die Schneidere...
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