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Fritz Skowronnek

Grenzkrieg

 

Es war ein bitterkalter Novemberabend. Im Westen war das Tagesgestirn eben unter dem Horizont verschwunden. Nur die letzten Strahlen schossen noch zum Zenit empor und färbten die dicken Wolkenmassen, die dort den Himmel deckten.

Tief unten am östlichen Himmel stand der Vollmond und schaute gleichgültig auf den müden Mann, der vom Grenzwald dem nahen Dorf zuwanderte. Mühsam stemmte der Wanderer sich gegen den Ostwind, der ihm den Atem benahm und gegen sein Gesicht die scharfen Eisnadeln warf.

Ab und zu wandte er sich um, wenn ein heftiger Windstoß Schneewolken von den Hecken und Bäumen riß und ihm ins Gesicht peitschte. Kaum hundert Schritte vor ihm lag das Dorf. Gleich vorn an der Straße ein großes Gehöft; aus den Fenstern des stattlichen Hauses strömte ihm der helle Lichtschein entgegen.

Der Jüngling biß die Zähne zusammen, die zitternd aneinanderschlugen, obwohl die Ermattung ihm den kalten Schweiß auf die Stirne trieb. Ab und zu griff er nach dem Kopf, den unter der großen Pudelmütze ein schmutziges Tuch umhüllte. Manchmal taumelte er, wie vom Schwindel gefaßt, aber mit ungewöhnlicher Energie kämpfte er gegen die Schwäche an, die ihn zu kurzer Rast im weichen Schneelager lockte. Jetzt stand er am Hoftor. Die Hunde schlugen an. Vergebens krampfte sich seine Hand um den Riegel. Seine Kraft war zu Ende. Über den zusammengesunkenen Körper warf der Wind die weiße Decke.

In der großen Wohnstube des Bauernhauses ging es gemütlich zu. In dem schwarzen Kachelofen prasselten und knallten die brennenden Birkenscheite. Auf dem Herde flackerte das Kienfeuer, bald stieg es hell empor, bald kroch es unter der Wucht eines Windstoßes in sich zusammen.

In der Mitte des großen Raumes saßen die Margellen am Spinnrocken. Vor jeder hing in mannshohem Gestell ein „Schibber“, ein meterlanges, dünnes Tannenscheit, das mit heller Flamme brannte. Auf der Ofenbank saßen die beiden Knechte und spalteten aus den im Rauchfang gedörrten Blöcken die dünnen, fingerbreiten Scheite. Am weißgescheuerten Eßtisch in der Ecke strickte die Hausfrau, eine stattliche Witwe, bei dünnem Talglicht eifrig an einem langen Strumpf.

Gegen das Hoftor stürmten die Hunde. „Willst du nicht nachsehen, Jons, weshalb die Köter bellen?“

Der alte Knecht erhob sich mürrisch von der Bank.

„Gute Herrin, wozu, wenn ich fragen darf? Wer soll jetzt zu uns kommen?“

„Auf Leute aus dem Dorf bellen die Hunde nicht.“

„Eben darum, Herrin, meine ich, brauche ich gar nicht nachzusehen.“

Frau Joneleit antwortete nicht mehr, ein Wink mit dem Finger —, der Knecht sprang hinaus. Im nächsten Augenblick war er zurück.

„Abrys, Annutte, helft, kommt schnell, am Hoftor liegt ein erfrorener Mann im Schnee!“

Sie trugen ihn hinein und legten ihn auf die Ofenbank. Ein Hund leckte ihm die herabhängende Hand. Annutte brachte einen Korb voll Schnee.... Damit rieben sie ihm Gesicht, Hände und Brust, bis er die Äugen aufschlug.

Einen Augenblick sah er verstört um sich, dann warf er sich mit einem plötzlichen Ruck von der Bank auf die Knie und ergriff den Rock der Hausherrin.

„Goldne, gute Frau, ich küsse deine weißen Hände, schütze mich, verbirg mich vor den russischen Bluthunden!“

„Weshalb bist du ausgerückt?“

„Meine süße Herrin, weshalb fragst du? Ob ich dies sage oder jenes, wirst du es mir nicht glauben... o rettet mich doch…“

Er sah wild von einem zum anderen, dann sprang er auf und wollte zur Tür. Er kam nicht weit; nach dem zweiten Schritt brach er zusammen.

„Dem täte besser, im Bett zu liegen, als Geschichten zu erzählen“, brummte der alte Jons.

„Du hast recht, Alter“, erwiderte die Hausfrau, „komm, Jons, hilf mir, ihn tragen.“

Während der Fremdling in dem kleinen Schlafzimmer, neben der Wohnstube, zu Bett gebracht wurde, spannen die Mädchen ihre Vermutungen.

„Hast du seine weißen Hände und die kleinen Füße gesehen?“

„Gewiß! Das ist ein Herrensohn, einer von den polnischen Schlachzizen.“

„Und das Gesicht wie Milch und Blut!“ — Jetzt kam Jons zurück.

„Laßt eure Mühlen nicht so laut klappern, sondern setzt einen Topf mit Wasser ans Feuer!“

„Ist er aufgewacht? Hat er gesprochen?“

„Die Frau wird euch gleich die Antwort sagen, wenn ihr nicht still seid!“

Das half. Annutte erhob sich, legte Holz nach und setzte Wasser auf. Die anderen steckten sich neue Schibber an und fingen wieder an zu spinnen. Ab und zu flüsterten sie sich halblaut eine Bemerkung zu, während ihre Augen von der Arbeit zu der Kammer wanderten, wo der Jüngling sich in wirrem Fiebertraum in den hochgetürmten Kissen umherwarf.

Er war mitten im Kampfgetümmel, kommandierte, fluchte und schlug mit den Händen um sich. Manchmal griff er nach der Binde am Kopf und stöhnte.

Frau Enute hatte versucht, ihm das Tuch abzunehmen, aber dann stöhnte der Kranke und wehrte sich dagegen, denn die schmutzige Leinwand war mit dem geronnenen Blut zusammengetrocknet. Endlich gelang es der Frau, mit Hilfe von warmem Wasser das Tuch loszuweichen.

Mitten über den Kopf zog sich eine augenscheinlich von einem Säbelhieb herrührende Wunde; die geschwollenen Ränder klafften weit auseinander. Sorgfältig wurde die Wunde mit warmem Wasser gereinigt, dann ließ sich Frau Enute die Salbe bringen, die jedes Jahr im Mai aus heilbringenden Kräutern frisch bereitet wird. Sanft strich sie die kühlende Mischung in den klaffenden Spalt und bedeckte ihn mit alter, weicher Leinwand.

Der Kranke ließ alles ruhig mit sich geschehen, er atmete ruhiger. Inzwischen war der heiße Pfefferminztee fertig. Nur mit Widerstreben nahm der Jüngling das Getränk zu sich. Aber es tat trotzdem seine Wirkung. Immer dichter traten die Schweißtropfen aus dem zarten Gesicht hervor, das sich leicht gerötet hatte. Unermüdlich trocknete seine Pflegerin ihm das Gesicht und wehrte die Hände ab, die das schwere Deckbett zurückstreifen wollten.

Da klang neben ihr ein leichter Schritt. Ein junges Mädchen, das kaum der Schule entwachsen schien, trat hastig ein und sah aus den großen, blauen Augen teilnahmsvoll auf den Fremdling.

„Wird er gesund werden, Mutter?“ fragte sie flüsternd.

„Gewiß, Madeline, ich hoffe es; ein junger Körper verträgt viel. Aber nun geh, nimm noch ein paar Lichte raus und sag’ den Mädchen, sie dürfen zu keinem Menschen darüber sprechen, daß wir einen polnischen Überläufer im Hause haben. Die Grenze ist zu nah, da konnten wir eines Nachts russischen Besuch bekommen. Wer schabbert, dem schneide ich die Zunge aus!“

Als das Gesinde Abendbrot gegessen und zur Ruhe gegangen war, wurde der Kranke in ein anderes, frisch bezogenes Bett gebracht.

Jetzt saß die Frau im bequemen Lehnstuhl an seinem Bett und strickte. Auf einem kleinen Tisch neben ihr brannte mit mühseliger Flamme das dünne Talglicht. Jons hatte sich auf der Ofenbank sein Lager gemacht und schnarchte, daß die Wände zitterten.

Langsam kroch der Zeiger der alten Uhr von Stunde zu Stunde. Frau Enute hatte den Kopf zurückgelegt. Die Augen waren ihr zugefallen. Da schreckte sie auf. Der Kranke lag ruhig, aber von draußen kam ein Geräusch, als ob ein Trupp Reiter auf der harten Straße vorbeisauste. Die Hunde schlugen an. In demselben Augenblick hatte die Frau das Licht gelöscht. Aus der Wohnstube kam Jons angetappt. „Frau, die Straschniks reiten hinter ihm.“

„Ich habe es schon gehört, Jons.“ Eine Weile horchten sie. Die Reiter hielten an.

„Jetzt fragen sie den Nachtwächter, er hat eben dicht bei uns die Stunde gepfiffen.“

Nach einer kleinen Weile stoben die Russen davon.

„Geh raus, Jons, und hör’ zu, was los ist. Die Nachbarn werden auch aufgewacht sein, da wird es nicht auffallen.“ Der Alte fuhr in seine „Kürbisse“, die großen Holzschuhe, die er sich an Winterabenden eigenhändig schnitzte, und ging hinaus. Nach einer Weile kam er zurück.

„Herrin, du hast recht. Ein ganzer Pulk Kosaken ist dagewesen. Die Bande hat gedroht, das ganze Dorf niederzubrennen, wenn der Pole hier gefunden wird.“

„Was hat der Gwildis gesagt, als sie ihn fragten?“

„Er hat gesagt, wenn der Überläufer im Dorf wäre, würde es das ganze Dorf wissen, also auch er. Aber er wußte nichts. Da hat der russische Wachtmeister geflucht und gemeint, der Junge könne nicht weit gegangen sein, denn sie hätten ihn schon drei Tage gehetzt, und das könne niemand mit einem solchen Loch auf dem Schädel aushalten. Da hat der Gwildis gemeint, sie sollten ihn lieber in der Forst suchen, da würde der Mann wohl erfroren hinter einer Tanne liegen.“

„Ob sie wieder durchs Dorf zurückkommen?“

„Ich glaube, ja, denn auf den anderen Straßen reiten doch auch Straschniks hinter ihm.“

„Weißt du was, Jons, du gehst zum Gendarm und weckst ihn auf, wenn er den Spektakel noch nicht gehört hat. Und dann sagst du ihm: ich, Enute Joneleit, laß ihm sagen, er soll die Männer zusammentrommeln und die Straße sperren. Mit zwei, drei Wagen ist es gemacht. Dann halten wir die Räuber an.“

„Ach, Frau, das wird der Herr Gendarm nicht tun.“

„Dann geh ich. Das wäre ja schlimm, wenn wir uns dieser Bande nicht erwehren könnten. Die Regierung tut nichts, man erfährt nicht mal, ob einer von den Banditen bestraft wird, wenn er einen preußischen Untertan nach Rußland verschleppt, oder Menschen auf dem Felde totschießt. Wieviel Mann waren es?“

„Etwa zwölf bis fünfzehn.“

„Und davor sollen wir uns fürchten?“

Während der letzten Worte hatte die Frau unter das Bett gelangt und ein Paar Mannesstiefel hervorgeholt. Eilig fuhr sie hinein und lief hinaus.

„Du bleibst bei dem Kranken!“

An den Toren ihrer Gehöfte standen die Männer und unterhielten sich über den Vorfall.

„Was schwatzt ihr alten Weiber, anstatt zu handeln?“

„Was sollen wir denn tun, Enute?“

„Hat nicht jeder von euch eine geladene Flinte an der Wand hängen? Meint ihr, die geht bloß auf Rehböcke los?“

Die Dorfstraße entlang kam der Gendarm. Sein Helm blinkte im hellen Mondenlicht.

„Das ist ungesetzlich, Frau Joneleit, wir können nicht auf die Russen schießen.“

„So, meinst du? Wer ist hier Herr im Land? Unser König oder die russischen Banditen?“

Die Bauern traten hinzu.

„Wollt ihr euch das wirklich gefallen lassen?“ fuhr die Frau auf sie ein. „Dann kriecht in euer Bett und zieht die Decke über die Ohren.“

In den baumlangen Litauern begann sich das Blut zu regen.

„Wir wollen schon, aber wie?“

„Ist gut, ist schon gut, wenn ihr nur wollt. Hier, gerade hier, wo die Straße umbiegt, müssen wir den Weg sperren. Holt die Wagen vom Hof. Und dort auf den kleinen Feldweg müssen wir auch ein paar Wagen querüber stellen. Und sowie sie hier halten, müssen dort beim Druskus die Wagen über die Straße gestellt werden.“

Inzwischen waren immer mehr Leute dazugeströmt. Kaum hörten sie, was geschehen sollte, als sie auch schon davoneilten, um sich zu bewaffnen. Es hatte nur dieser Anregung bedurft, um den alten, durch zahllose Übergriffe der russischen Grenzsoldateska erzeugten Groll in Flammen zu setzen.

Eine Viertelstunde später schien der Mond auf eine erregte Szene. Auf der Straße kamen die russischen Reiter angesprengt. Hinter den Hoftoren sprangen die Litauer hervor und fielen den Pferden in die Zügel. Die letzten wollten ihre Gäule zur Flucht wenden, aber da rasselten zu beiden Seiten ein paar Wagen quer über die Straße und sperrten den Weg auch rückwärts.

„Reißt die Räuber vom Pferd, wer sich wehrt, wird totgeschossen!“ rief eine helle Frauenstimme dazwischen.

Nun gab’s ein furchtbares Getümmel, ledige Pferde bäumten sich und rannten gegen die Zäune. Die Straschniks waren im Nu überwältigt. Einer und der andere hatte blank gezogen und einen Hieb geführt, aber ein Schlag mit dem Flintenkolben oder einer Wagenrunge bereitete seinem Kampfesmut ein jähes Ende. — Da, wo der Verhau rückwärts die Straße sperrte, hielt ein junger Reiter. Er hatte eine doppelläufige Pistole gezogen und hielt sich damit die Bauern vom Leibe. Da sprang Enute vor.

„Schießt dem Hund doch das Pferd unter dem Leibe tot!“ Drei, vier Schüsse krachten, der Gaul stürzte und begrub den Reiter unter sich. Ehe er sich erheben konnte, war er unter den Fäusten der Bauern.

„Rührt mich nicht an, ich bin ein Offizier!“

„Das ist ja noch schöner! Da wird sich dein Kaiser freuen, wenn er hört, daß du deinen Rock ausziehst, um verkleidet in ein befreundetes Land einzubrechen.“

Mit Stricken gefesselt wurden die Gefangenen in das Schulhaus geführt. Bei einer trübseligen Talgkerze saßen und lagen die Russen, zum größten Teil verwundet, auf den Bänken, wo sonst die fröhliche Jugend den Worten des Lehrers lauschte.

Sorgenvoll ging der Gendarm vor den Bänken auf und ab. Er dachte an das Gesicht des Herrn Landrats, wenn er morgen mit dem Trupp vor ihn treten würde.

Da trat Enute ein. Sie ließ sich vom Lehrer Wasser bringen und verband die gefangenen Straschniks. Als sie fertig war und gehen wollte, folgte ihr der Gendarm vor die Tür.

„Hast du auch bedacht, Enute, was du uns eingebrockt hast?“

„Wenn du dich fürchtest, geh nach Hause. Ich hol’ den Schulzen und meine Knechte. Die Bande soll uns nicht entkommen.“

„Aber Frau, ich komm’ in Deuwels Küche!“

„So, du Bangbür du? Ich dachte, du bist auch manchmal zu unserem Schutz da. Aber wie mir scheint, hast du nichts anderes zu tun, als uns anzuzeigen, wenn mal ein Feuereimer fehlt.“

„Ich verliere mein Amt.“

„Dann kannst du bei mir zur Arbeit kommen. Soviel trägt meine Wirtschaft noch, um dich durchzufüttern.“

„Ich sag’ dir noch einmal, ich habe kein Recht, die Leute hier festzuhalten.“

„Du willst sie laufen lassen?“

„Ja! Enute, sei vernünftig! Das ganze Dorf kommt in Deuwels Küche, wenn die Geschichte bis an die Regierung geht.“

„So, meinst du? Ich meine, wir haben was Gutes getan. Sind das russische Soldaten? Räuber sind es! Kein einziger hat ‘ne Uniform an mit irgendeinem Abzeichen.“

„Aber sie haben doch nichts getan! Sie sind bloß durchs Dorf geritten.“

„Das wird sich schon feststellen lassen, was die Banditen sind. Der eine hat sich ja selbst als Offizier ausgegeben.“

„Siehst du! Ich habe recht. Mein Gott, mein Gott! Das wird ‘ne schöne Geschichte werden. Für jeden, der dabei gewesen ist, fallen mindestens ein paar Jahre Gefängnis ab. Meinst du, daß die Regierung es leiden wird, daß wir mit Rußland Krieg anfangen? Lach’ nicht, Enute, ihr habt die Leute vom Pferde gerissen und sie gebunden. Und du bist der Anstifter, der Rädelsführer! Ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Für dich wird noch was extra gebraten!“

Die Frau wurde nachdenklich.

„Die Sache läßt sich doch nicht mehr aus der Welt schaffen. Was wir uns eingebrockt, müssen wir ausessen.“

„Sag’ nicht, Enute! Die Kerle werden froh sein, wenn wir sie loslassen.“

„Und wenn sie heute oder morgen nacht wiederkommen und uns die Dächer über dem Kopf anstecken?“

„Glaubst du das wirklich? Nein, Enute, du hast mal eine traurige Erfahrung gemacht und deinen Mann dabei verloren.“

„Meinst du, daß ich’s vergessen kann?“

„Nein, das kann dir keiner zumuten. Aber du bist in deinem Haß gegen die Russen zu weit gegangen und hast das ganze Dorf mit dir fortgerissen. Jetzt seht, wie ihr damit fertig werdet.“

Die Straße herauf kam ein Trupp Bauern. Man hörte sie von weitem darüber streiten, was mit den Gefangenen geschehen sollte. Jetzt standen sie vor dem Schulhause. Aus dem dunklen Flur trat ihnen Frau Enute entgegen.

„Kommt rein, wir haben zu sprechen.“ Die große Stube der Lehrerwohnung füllte sich mit Männern. Geschäftig trug der Lehrer Stühle herzu, während seine Frau Gläser verteilte und aus einer mächtigen Kanne „Alaus“ einschenkte, das gelbe, schwere Bier, das jede Hausfrau damals noch zu bereiten verstand.

Donalies, der Schulze, klopfte auf den Tisch.

„Ich habe euch heute nicht mit dem Krawall geladen. Wer weiß, ob ihr auf mein Zeichen gekommen wär’t, aber wenn Enute Joneleit pfeift, dann tanzt ihr!“

Enute trat aus dem Hintergrund an den Tisch.

„Donalies, dreimal haben wir dich zum Schulzen gemacht, das viertemal wird’s nicht geschehen. Darauf verlaß dich, so wahr ich deiner Schwester Tochter bin! Solch ein Dorf, wie Serbenten, braucht einen Mann, aber nicht ein altes Weib!“

„Dann werden wir dich zum nächsten Mal als Schulzen wählen.“

„Das könnt ihr tun. Dann habt ihr wenigstens einen, der russische Räuber nicht ungestraft durch das Dorf reiten läßt. Ja, ich, ich bin es gewesen, die die Männer zusammengetrommelt hat. Du nicht, Donalies, du hast zu Hause hinter dem Ofen gesessen, aber deine Jungen waren dabei, der Abrys und der Erkmann!“

„Meine Jungen sind alt genug, um zu wissen, was sie tun.“

„Das meine ich auch, deshalb waren sie da, wo das ganze Dorf war.“

„Laßt doch das Streiten!“ rief der Gendarm dazwischen. „Wir haben Wichtigeres zu besprechen! Was soll mit den Straschniks geschehen? Wollt ihr sie morgen mit mir zur Stadt bringen? Wenn nicht, dann sagt, dann fahre ich noch in der Nacht zum Landrat!“

Einen Augenblick herrschte Stille im Zimmer. Dann fing Donalies an:

„Du, Enute, du hast ja den Krieg mit Rußland angestiftet, möchtest du nicht auch bestimmen, was weiter geschehen soll?“

„Wenn ihr auf mich hören wollt, warum nicht! Aber ich fürchte, daß euch allen schon wieder das Herz in die Hosen gefallen ist, weil ihr euch mal selbst geholfen habt. Ich will vertreten, was ich getan habe. Meint ihr, ich könnte es vergessen, was mir geschehen ist? Deine Tochter war es, Onkel, für die mein Mann in den Tod gehen mußte. Vielleicht wäre es besser, du hättest jetzt einen Enkel, der seinen Vater unter den Straschniken suchen muß. Der ärmste Knecht würde zuspringen, wenn eine litauische Herrentochter von einem russischen Banditen ins Roggenfeld geschleppt wird. Und das sollen wir uns gefallen lassen? Ist nicht der Kerl, der meinen Mann erschossen hat, noch monatelang an der Grenze herumspaziert? Wer schützt uns davor? Die Regierung etwa?“

Beifälliges Gemurmel ließ sich ringsum vernehmen.

„Und wird das anders werden?“ fuhr die resolute Frau fort. „Wenn wir uns nicht helfen, hilft uns kein Gott und kein Deuwel! Du, Josupeit, erzähl’ mal, wie dir’s in Rußland gegangen ist, als du im vorigen Winter nachts im Walde dich verfuhrst und über die Grenze gerietst. Nicht wahr, du hast täglich dreimal Kuchen und Braten in der Kosa gekriegt. Und du, Usdraweit, wo hast du deine beiden Füchse, die jetzt zur Remonte gehen sollten? Ich glaube, der eine ist heute nacht totgeschossen worden.“

Mit blitzenden Augen sah sich die Frau im Kreise um.

„Tut, was ihr wollt. Wenn ihr Schlafmützen seid, dann geht rüber, bittet die Herren Straschniks vielmal um Verzeihung, legt ihnen noch ein papiernes Pflaster auf und bringt sie höflich zur Grenze. Aber seht zu, daß sie euch nicht mitnehmen. Ich bleibe hier. Gute Nacht!“

Im Schulzimmer sahen die Männer noch lange in ernster Beratung. Nur allmählich gelang es dem Schulzen und dem Gendarmen, den Einfluß der Enute Joneleit aus dem Felde zu schlagen. Aber schließlich wirkte der fortwährende Hinweis auf die möglichen Folgen des Vorfalles doch bei den Männern.

Nach einer weiteren Stunde hatten die Russen ihre Pferde und Sättel wieder, nur die Waffen waren spurlos verschwunden. Der junge Offizier, der die Sachlage richtig erfaßte, hatte patzig ein neues Pferd oder 300 Rubel verlangt. Sonst würde er bleiben und sich morgen zum Landrat führen lassen. Da hatte Usdraweit zugegriffen und den frechen Burschen „so ‘n bißchen abgeschlackert“. Als der also Behandelte wieder zur Besinnung gekommen war, war seine Frechheit verflogen. Er warf einen seiner Leute vom Pferde, sprang in den Sattel und stob davon. Hinter ihm seine Leute. Der unfreiwillige Fußgänger nahm die Beine in die Hand und lief seinen Gefährten nach.

Enute saß wieder im Lehnstuhl am Bett ihres Schützlings, der jetzt sanft schlief. Ihr waren gerade die Augen zugefallen, als die Russen davonritten. Verstört horchte sie auf, und als sie das Geräusch erkannte, krampfte sich ihr vor Ärger das Herz zusammen. Erst gegen Morgen, als schon der graue Schein sich durch den herzförmigen Ausschnitt der Fensterladen stahl, schlummerte sie wieder ein. Das Licht war fast bis zum letzten Stümpfchen abgebrannt; es begann bereits zu zucken. Da öffnete sich leise die Tür zur Kammer. Madeline trat ein und beugte sich über den Kranken. In diesem Augenblick erwachte der Jüngling und starrte zuerst verständnislos die beiden Frauengestalten an. Langsam kehrte ihm das Bewußtsein zurück. Er griff nach seinem Kopf, aus dem der Schmerz geschwunden war, dann streckte er die Hand dem jungen Mädchen hin, das einen Schritt zurückgetreten war.

„Ich falle dir zu Füßen, ich küsse deine süßen Händchen, du schönes Mädchen, die du einen Unglücklichen vom Tode gerettet hast.“

Mit dem Kopfe wies Madeline auf ihre Mutter, die eben erwachte.

„Bedank’ dich bei der Mutter, die hat dich aufgenommen und deine Wunde verbunden.“

Nun erschöpfte sich der Pole in glühenden Danksagungen gegen Enute. Dann fing er an zu erzählen, was ihm geschehen. Er, Fedor Graf Jedlinsky, war gerade von einer großen Reise durch Europa nach Hause gekommen, als sein Volk zu den Waffen griff, um die verhaßten Russen aus dem Lande zu treiben. Natürlich hatte er sich sofort einreihen lassen. Aus jedem Regiment wurde ein Trupp ausgelost, der die Exekutionen an den Verrätern und den als Spionen verdächtigen jüdischen Gastwirten zu vollziehen hatte. Das Los teilte ihn diesem Trupp zu, machte ihn sogar zum Anführer der „Hängegendarmen“. Bei der letzten Expedition, die einem Kaczmarz galt, wurde er mit seinen Leuten von den Russen überfallen. Der Hieb über den Kopf warf ihn vom Pferde. Während des Getümmels gelang es ihm, den nahen Wald zu erreichen. Zwei Tage und zwei Nächte hatte er sich durch das Land geschlagen. Am Tage saß er im Waldesdickicht, nachts wanderte er. Seine einzige Nahrung war ein Stück Brot, das er in einer einsamen Hütte von einer Frau erhalten hatte, deren Mann sich ebenfalls den Insurgenten angeschlossen hatte. Vor der Grenze hatte er auf einem Berge gelegen, um eine günstige Gelegenheit zur Flucht nach Preußen zu erwischen. Mehrmals waren Kosakenpatrouillen neben seinem Versteck vorbeigeritten. Vor Kälte und Hunger war ihm das Bewußtsein geschwunden. Als er wieder zu sich kam, machte er sich ohne Rücksicht auf die Gefahr auf den Weg. Es gelang ihm, den mit dichtem Wacholdergebüsch bestandenen Grenzwald auf preußischem Gebiet zu erreichen. Von dem letzten Stück Weg bis zum Dorf habe er kaum noch einen Schimmer von Erinnerung.

Erschöpft schloß Fedor nach Beendigung seiner Erzählung die Augen. Auf einen Wink der Mutter sprang Madeline hinaus und brachte nach einer Weile Schinken und ein paar weichgekochte Eier sowie ein Glas Ungarwein. Nachdem der Kranke etwas gegessen, entschlummerte er sofort wieder.

Leise verließen die Frauen die Kammer. Frau Enute schärfte den Mädchen und Knechten noch einmal Verschwiegenheit ein, dann warf sie sich auf ein Bett, um noch ein paar Stunden Schlaf zu finden.

Am Nachmittag kam der Landrat vorgefahren. Der Gendarm war bei ihm gewesen und hatte die Vorfälle der Nacht berichtet. Als der alte Herr vom Schlitten stieg, stand Enute in der Sonntagstracht einer reichen litauischen Witwe auf der Schwelle.

„Herr, kommst du als Gast oder als Richter?“

„Enute Joneleit, ich will als Gast Ihre Schwelle überschreiten.“

Mit freundlicher Miene griff die Frau nach der Hand des Mannes.

„Sei willkommen in meinem Hause, Pons Landratis; seit dem Begräbnis meines Mannes hast du diese Schwelle nicht betreten.“

Sie führte ihn über den weiten Flur, der mit weißem Sand und gehackten Tannenzweigen bestreut war, in die nach städtischer Art eingerichteten Gasträume. Auf der weißgedeckten Tafel stand das schwere Silbergeschirr; dazwischen geschliffene Kristallgläser. In hohen Leuchtern standen zwei dicke Wachskerzen auf dem Tisch.

Frau Enute füllte zwei Gläser mit Ungarwein und stieß mit dem alten Herrn an, der sich auf dem Sofa niedergelassen hatte.

„Nimm vorlieb, Herr, mit dem Gruß einer Witwe, die sich freut, dich in ihrem Hause bewirten zu können.“

Mit höflicher Redensart erwiderte der Landrat die Bewillkommnung. Dann folgte er der wiederholten Aufforderung, etwas zu essen, und langte zu. Die meilenweite Fahrt durch die Winterluft hatte ihm Appetit gemacht.

Ein gleichgültiges Gespräch über Enute und Dorfangelegenheiten lief nebenher. Als er Gabel und Messer und die Serviette von sich gelegt und die gute Havanna angezündet, die ihm die Wirtin aus echter Kiste bot, legte sich der alte Herr behaglich in die Ecke des Sofas zurück und lachte Enute vergnügt an.

„Nun wollen wir mal ein vernünftiges Wort miteinander reden, Frau Enute. Nun erzählen Sie mir mal ganz offen, was heute nacht hier passiert ist. Aus dem Gendarmen bin ich nicht klug geworden.“

Enute füllte ihm das Glas und sah ihn offen an.

„Hättest du nicht gefragt, Herr, hätte ich angefangen. Und wärst du heute nicht gekommen, dann wäre ich morgen bei dir gewesen, um Klage zu führen. Vielleicht wäre ich auch weitergefahren bis nach Gumbinnen zur Regierung, vielleicht fahre ich auch jetzt noch, wenn du nicht helfen kannst. Und wenn’s sein muß, fahre ich bis Berlin zum Herrn König. Denn ich glaube, er weiß nicht, was hier an der Grenze vorgeht?“

Der alte Herr sah prüfend die heftig sprechende Frau an. Er kannte ihre Energie und wußte, daß sie durchführte, was sie aussprach.

„Frau Enute, und wenn Sie ...

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